Umweltatlas Wattenmeer Bd. 1

Ulmer Verlag, Hrsg. vom Landesamt für den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer & Umweltbundesamt, Red.: Jörn Kohlus & Hila Küpper

Ein Beitrag im Kapitel: Einfluß des Menschen

Verweise


In England hat sich der aus Asien eingeführte Rhododendron längst aus den Gärten hinaus in die weite Landschaft aufgemacht. In Mitteleuropa verändert das Indische Springkraut zunehmend die Vegetation der Flußauen. Auch ins Wattenmeer gelangten durch den Transporteur Mensch aus fernen Regionen viele Tiere und Pflanzen. Einige davon etablierten sich so gut, daß es den Anschein hat, als wären sie schon immer hier gewesen.

Fremde im Wattenmeer

K. Reise

Als der Mensch aus seiner afrikanischen Wiege zu anderen Kontinenten aufbrach, war er vielen jagdbaren Großtieren noch unbekannt, und sie wahrten nicht die nötige Fluchtdistanz. So rotteten vor 12.000 Jahren die Indianer Mammut, Mastodon, Pferd und Kamel aus, als sie in Amerika einwanderten. Vor 500 Jahren brachen die Marinheiros und Conquistadores zu neuen Ufern auf. Pflanzen ohne Stacheln oder Vögel ohne Flügel kamen in Bedrängnis: um 1588 hatten ausgesetzte Ziegen St. Helena kahl gefressen, und um 1681 wurde der letzte der truthahngroßen Dodos auf Mauritius erschlagen. Die Eroberer brachten ihr Vieh und ihr Getreide und verbreiteten schließlich Masern, Blattern und andere Krankheiten über die ganze Welt. Der Mensch wurde zum unfreiwilligen Spediteur. Besonders hoch war der biologische Artenimport, wenn der Mensch nicht nur als biogeographischer Ausbreitungsvektor auftrat, sondern zugleich auch als Landschaftsveränderer.

Auch Meeresorganismen sind durch den Menschen weit herumgekommen, und durch den transozeanischen Schiffsverkehr ist auch das Wattenmeer zum Einwanderungsgebiet geworden. Die "blinden Passagiere" saßen entweder außenbords, wie die Seepocke Elminius modestus aus Australien, oder sie verbrachten die weite Reise im Ballastwasser als Sporen, Planktonalgen oder Tierlarven. (Zur Karte)

Amerikaner

Früher luden die Schiffe zur Stabilisierung auch Meeressand, der dann vor dem Einlaufen im Hafen an der Küste über Bord ging.

Im 16. Jahrhundert kam auf diesem Wege die Sandklaffmuschel Mya arenaria aus Amerika nach Europa. Dänische Forscher vermuten, daß dies sogar schon die Wikinger vollbrachten. Vor der Eiszeit lebte die Sandklaffmuschel schon einmal auf beiden Seiten des Atlantiks, starb dann aber an der Ostseite aus. Nun ist dieser "Eiszeitschaden" behoben. Im Wattenmeer sind viele Prielkanten mit diesen großen Muschelschalen dicht bepflastert, so als ob sie hier schon immer waren. Nicht mit über den Atlantik kam die Vorliebe der Amerikaner für diese Delikatesse ("clam showder"). Nur in Cuxhaven wurde die Einwanderin nach dem Krieg zu Muschelwurst verarbeitet.

Viel jüngeren Datums ist die Ankunft der Schwertmuschel Ensis americanus (syn. E. directus). Ihre Larven gelangten offenbar mit dem Ballastwasser eines Schiffes von der amerikanischen Atlantikküste in die Nordsee. Vor der Elbmündung und im Wattenmeer wurden 1979 die ersten Schwertmuscheln gefunden. Inzwischen ist sie vom Kattegat bis zur französischen Küste verbreitet und zu einer der häufigsten Muschelarten geworden. Bei Sylt wurden auf einem Quadratmeter bis zu 4000 Jungmuscheln und 2 bis 4-jährige mit gut 100 Individuen gefunden. Jungmuscheln siedeln sich häufig auf den Sandwatten an, sie sind gute Schwimmer und verlassen diesen Bereich bald wieder. Dichte Altmuschelsiedlungen gibt es nur unterhalb der Gezeitenzone. Zahlreich sind sie in Prielen und vor den Brandungsstränden der Inseln. Bisher ist nicht zu erkennen, daß diese Neueinwanderin irgendeine heimische Muschel verdrängt hat. Offenbar gibt es im Wattenmeer ausreichend freien Platz und Nahrung.

Mit dem schneller gewordenen Schiffsverkehr hat auch die Wahrscheinlichkeit zugenommen, daß die blinden Passagiere von fernen Küsten im Ballastwasser die Passagen überleben. Eine Möglichkeit dies zu verhindern, wäre das Ballastwasser auf hoher See auszutauschen, weil dort im Plankton andere Arten vorkommen, die nicht an das Küstenleben angepaßt sind. Aber das Ballastwasser ist nur ein Weg für Meeresorganismen, um von einer Küste zur anderen zu gelangen. Durch Importe von Austern wurde versucht, die durch Raubbau entstandenen Verluste an heimischen Austern auszugleichen. Die Einbürgerung amerikanischer Austern (Crassostrea virginica) in die Nordsee mißlang, aber versehentlich wurden dabei amerikanische Bohrmuscheln (Petricola pholadiformis um 1904) und amerikanische Pantoffelschnecken (Crepidula fornicata um 1934) eingeschleppt, die sich fest etablierten.

Asiaten

Vom indopazifischen Raum dauert eine Seereise wesentlich länger als von der amerikanischen Atlantikküste. Dennoch kamen einzelne Arten per Schiff bis ins Wattenmeer, z.B. um 1903 die Planktonalge Odontella (Biddulphia) sinensis und die Wollhandkrabbe Eriocheir sinensis um 1912. Bedeutender waren aber die Austern als Wegbereiter. In Japan wird die Pazifische Auster Crassostrea gigas seit dem 17. Jahrhundert kultiviert. Schon damals brachten portugiesische Seefahrer sie nach Südeuropa, wo sie seitdem unter dem Namen C. angulata bekannt und verbreitet ist. Als an der amerikanisch-kanadischen Pazifikküste Raubbau die Bestände der heimischen Ostrea lurida zerstörte, wurde zum Ausgleich um 1900 C. gigas eingeführt, kultiviert, und sie breitete sich dann aus. Von dort wurde sie etwa 1965 nach Europa verschifft, um die von Krankheiten mitgenommenen Zuchten der O. edulis in Frankreich, England und den Niederlanden zu ersetzen. Das gelang mit großem Erfolg, und seit 1985 wird C. gigas auch im Wattenmeer bei Sylt in Kultur genommen. Anschließend breitete sie sich über Larven in den Miesmuschelbänken aus. Auch diese Auster kam nicht allein. Die beiden Planktonalgen Thalassiosira punctigera und Coscinodiscus wailesii gelangten offenbar aus dem Pazifik mit diesen Austern nach Europa. Gleiches gilt für den Japanischen Beerentang (Sargassum muticum). Diese Alge kam wohl um 1940 auf C. gigas wachsend von Japan nach Kanada, dann Ende der 60er Jahre von dort weiter nach Europa, erreichte Ende der 80er Jahre Helgoland und wächst seit 1993 auf den Miesmuschelbänken von Sylt - wo sie nun wieder auf C. gigas traf.

Kein Ende

Etwa 30 solcher Exoten aus fernen Küsten sind für das Wattenmeer bekannt. Die merkwürdigste und auch augenfälligste Einbürgerung ist wohl das Schlickgras Spartina anglica. Es ist aus einer Kreuzung von S. maritima und S. alterniflora hervorgegangen. S. maritima ist an der afrikanischen Küste verbreitet und wurde im 16. Jahrhundert nach Westeuropa verschleppt. S. alterniflora stammt von der Ostküste Nordamerikas und kam im Ballast eines Schiffes um 1816 nach Southampton. Dort kreuzten sich die beiden Arten, und durch anschließende Verdopplung der Erbanlagen entstand die neue Art S. anglica - gerade zu der Zeit, als Darwin sein Buch über die Entstehung der Arten veröffentlichte. Dieses neue Schlickgras wurde als gepriesene Verlandungspflanze 1927 nach Nordfriesland gebracht und breitete sich aus. Die Verlandung hat das Schlickgras kaum gefördert, aber die Salzwiesen sind um eine bestandsbildende Art reicher geworden, stellenweise auf Kosten von Queller und Andelgras.

Erfolgreiche Invasoren sind meist Opportunisten* mit hoher Vermehrungs- und Ausbreitungsrate. Empfängergebiete haben vielfach gestörte Biotope. Das heutige Wattenmeer entstand erst nach der Eiszeit. Die Besiedlung begann von Süden her vor etwa 6000 Jahren - eine kurze Zeit für langsame Pflanzen und Tiere. Außerdem hat sich das Wattenmeer seit seiner Entstehung fortlaufend verändert, und in jüngerer Zeit tat der Mensch mit Eindeichungen, Fischerei, Eutrophierung und Schadstoffeinträgen das Seine dazu. Ein fein austariertes und gesättigtes Beziehungsnetz konnte dadurch in diesem Ökosystem nie entstehen. Entsprechend offen sind die Lebensgemeinschaften des Wattenmeeres für die vom Menschen eingeschleppten Arten. Ob und wie sich ein Neuankömmling integrieren wird, ist im Vorwege kaum zu sagen. Sicher ist, daß durch den schneller gewordenen Schiffsverkehr die Einwanderungsrate weiter zunehmen wird. (Carlton & Geller 1993, Reise 1994).


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